"DER HERR, DEIN ARZT"

Zwischen Gesundheit und Krankheit

„Hauptsache gesund“ lautet heute das Motto von Menschen, für die Gesundheit zum wichtigsten Lebensziel avanciert ist. Dort, wo Gesundheit so hoch gehalten wird, wächst der Einfluss einer Gesundheitsdiktatur, in der Gesundheit ein Kriterium vollwertigen Menschseins darstellt.

Der dunkle Gott

In der Gesundheitsdiktatur wird Gesundheit etwas Machbares, über das der Mensch selbst verfügen kann. Die biblische Leidensgeschichte Hiobs zeigt dagegen, dass Gesundheit weder etwas Machbares noch ein Verdienst ist, der einem Menschen zusteht, wenn er treu und gläubig gelebt hat. Das Unaufgelöste, Widersprüchliche, das hier offenbar wird, macht deutlich, dass Gott nicht den Bedingungen einer heilen Happy End-Welt folgt. Gott „schafft“ Heil und „Unheil“ (Jes. 45,7). Aus biblischer Sicht ist dies ein Erweis der Souveränität Gottes. Heil und Unheil, Gesundheit und Krankheit sind von ihm umfangen. Weil Gott nach biblischem Zeugnis Wirkursache hinter allem ist, gilt entsprechend: „Er kann schlagen und kann heilen“ (5. Mose 32,39).

Für diese Spannung zwischen den jeweiligen Aussagen gibt es keine Erklärung. Gott ist der, der sich des notleidenden Menschen erbarmt und der, der den ungehorsamen Menschen „züchtigt“ und ihn mit Krankheiten „heimsucht“ (3. Mose 26,16.18). Dem gnädigen Schöpfungshandeln Gottes und dem Heil, das sich endzeitlich vollendet, steht das Schlimme, Unheile gegenüber, das in der Krankheit hervortritt. An dieser Stelle zeigt sich die dunkle Seite eines Gottes, dessen „Ratschluss“ zu „hoch“ für uns ist und dessen Wege wir „nicht verstehen“ (Ijob 42,3).

Schuld und Krankheit

Gott ist nach dem Zeugnis des Alten Testaments der alleinige, wirkmächtige Arzt (2. Mose 15,26). Menschen danken ihm nach ihrer Heilung. An ihn richten sie die Bitte um Gesundung, aber auch die Klage wegen Krankheit. Krankheit ist dabei nach biblischer Auffassung nicht nur ein körperliches Gebrechen. Sie hat auch mit Gott und dem Heil des Menschen zu tun. Sie ist Ausdruck einer Heilskrise, die die Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf betrifft. Der alttestamentliche Mensch erfährt Krankheit als Infragestellung dieser Beziehung. Krankheit wird zurückgeführt auf menschliches Fehlverhalten, die Sünde vor Gott, die den Menschen von ihm trennt und entfremdet.

Im heutigen Krankheitsverständnis fällt der Gottesbezug aus. Gemäß der Gesundheitsdiktatur gilt: Wer Regeln bricht, wer nicht an seinem Körper arbeitet, wird krank. Diese Regeln legt sich der Mensch nunmehr selbst auf. So ist etwa im Self-Tracking Gesundheit das Ergebnis, der Lohn eigener Leistung. Wer seinen Körper mit Gesundheits-Apps vermisst und alle Vorgaben erfüllt, der bleibt gesund. Wer sich jedoch gehen lässt und die Regeln des Gesundheitskanons nicht einhält, der muss Krankheit als Strafe hinnehmen. Der Betroffene ist also selbst für seinen Zustand verantwortlich. Damit scheint hier die alttestamentliche Schuld-Krankheit-Kausalität wieder auf.

Gesundheitsreligion

Menschen verfügen heute in Sachen Gesundheit zunehmend über ganz neue Möglichkeiten. Sie werden und bleiben durch Technik gesund. Mehr noch: Über die eindrucksvollen Fortschritte von Gentechnik und Biomedizin hinaus verheißt vor allem der Transhumanismus eine digitale Unsterblichkeit, in der die Kränkung der Krankheit überwunden wird.

Der Versuch, diese Kränkung zu überwinden, offenbart letztlich eine ganz andere, tiefer liegende Krankheit von Menschen, die ihr Heil in der Gesundheit suchen und deren Leben nur noch um Gesundheit kreist. Dabei entsteht eine Gesundheitsreligion, in der Gesundheit idolisiert wird. „Ich weiß von keinem Gut außer dem Herrn“, so lautet das Bekenntnis in Psalm 16 (Ps. 16,2). Dieser Tage dreht sich das Leben vor allem wegen der Corona-Krise um kein anderes Gut als um Gesundheit.

Damit schwindet auch die Bereitschaft, krankem Leben einen Wert an sich zuzuerkennen. Gemäß der biblischen Botschaft von Gott als unserem Herrn und Arzt ist jedoch das ganze Leben – das gesunde und das kranke – ein Dienst an Gott, der uns heilt und uns ein Heil zusagt, das wir durch keine medizinisch-technische Errungenschaft selbst herbeiführen können.

 

Dieser Artikel stammt von Dr. Elisabeth Hurth. Sie ist Lerntherapeuthin und Publizistin, hat Amerikanistik, Germanistik und Theologie studiert. Ein Beitrag zu Gesundheit und Krankheit.